Sigmund Freud und das Kokain
Ich habe Freuds “Über Coca”, weil ich es nicht anständig formatiert gefunden habe, überarbeitet und bei Amazon hochgeladen, wo es nun als eBook und Taschenbuch (eher Büchlein, bei knapp 40 Seiten) verfügbar ist. Außerdem habe ich ein Vorwort geschrieben:
Es gibt einen legendären Text von Sigmund Freud über Kokain, der lange vor den psychoanalytischen Werken entstand. Freuds Kokainkonsum fehlt in kaum einer popkulturellen Darstellung. Das weiße Pulver dient dabei oft dazu, dem bürgerlich-spießigen Gründer der Psychoanalyse ekstatische, entgrenzte Züge anzudichten: Ein bisschen manisch, ein bisschen psychotisch, irgendwo zwischen Schamane und Rockstar. Ich habe diesen Text, den ich bisher nur als Scan des originalen Journals von 1884 gefunden habe, ein wenig redigiert, das folgende kleine Nachwort geschrieben und ihn bei Amazon veröffentlicht. Dort ist er nun als Paperback oder bei Kindle Unlimited erhältlich.
In der recht peinlichen Biographie Freuds von Ernest Jones - peinlich aufgrund der hagiographischen Verehrung - liest sich die Geschichte hinter diesem Text wie folgt: Der geniale Freud hab beinahe oder hat doch eigentlich die betäubende Wirkung des Kokas entdeckt. Jedoch verhinderte die große Sehnsucht nach seiner Verlobten Martha Bernays, die er drei Jahre nicht gesehen hatte, weitere Veröffentlichungen. Deshalb habe er seine Entdeckung großmütig dem Kollegen Carl Koller mitgeteilt, der dann wenige Monate später Weltruhm (zumindest in medizinischen Kreisen) erlangen sollte für seine Anwendung des Kokains zur lokalen Betäubung bei bestimmten Augenoperationen. Diese Version entspricht Freuds Darstellung in seinen Briefwechseln, in denen er sich leutselig gibt: "Eine jetzt neunundvierzigjährige Ehegemeinschaft hat mich später für den Entgang an Jugendberühmtheit entschädigt.“
Wer einen Fernseher besitzt, kann von dieser Version der Geschehnisse nur irritiert sein: In Leinwandwerken, die sich der Rauschgiftkriminalität widmen, wird das mysteriöse Pulver vom hartgesottenen Helden in kleiner Menge an das Zahnfleisch geführt, damit dieser dann feststellen kann: Kokain. Die betäubende Wirkung Kokains ist nämlich kein zu enthüllendes Mysterium, sondern eine Offensichtlichkeit, die bei Kontakt der Substanz mit Schleimhäuten zutage tritt. Die soll Freud, der auch in diesem Text über seinen eigenen Konsum offen spricht, nicht erkannt haben? Natürlich nicht.
Tatsächlich liefen die Dinge anders: 1884, zur Zeit der Veröffentlichungen von Freud und Koller, war Kokain bereits seit 25 Jahren auf dem pharmazeutischen Markt. Spätestens seit 1862 war der Wiener Ärzteschaft die betäubende Wirkung bekannt, da sie Gegenstand der Lehre des dortigen Professoren für Pharmakologie Karl Damian von Schroff war.
Freuds unbestrittener Beitrag ist, die Substanz aus der bildlichen Versenkung geholt zu haben - worauf auch Carl Koller in seinem Artikel hinweist. Das Genialische Freuds findet in diesem Text auf einer pur sprachlichen Ebene statt: Was ein Artikel für ein Medizinjournal aus der Welt von Gestern ist, liest sich dem Thema angemessen mitreißend und anregend. Düster ist die Vorahnung Freuds in Kapital VI, in der er die Auswirkung Kokains auf Kriege voraussieht. Aufputschmittel sollten vor allem im Zweiten Weltkrieg eine große Rolle spielen und in Form von Amphetaminen als Pervitin, der sogenannten "Panzerschokolade" den Blitzkrieg ermöglichen.
Die Nachwelt kann dankbar für das Scheitern Freuds auf emeurologisch-pharmakologischen Feld sein. Dadurch war es für ihn notwendig, sich aus Ruhmsucht ein neues, eigenes Feld zu erschaffen: Die Psychoanalyse.